Kirgistan hofft auf ein Ende des religiösen Extremismus und erwartet eine Wiederbelebung der alten Handelswege (Januar 2002)
Im Schlachthaus der Gegenwart wabern seit langem die unterschwelligen Konflikte der Geopolitik am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Da sich Afghanistan und die Region Zentralasien in deren Grenzrevier befinden, haben auch wir Kirgisen als Nachbarn all das miterlebt, was sich im stürmischen Land des religiösen Extremismus abspielte. Das gilt besonders für die Zeit, als sowjetische Truppen mit ihrer sattsam bekannten "internationalen Mission" fatalerweise dort eingedrungen sind, was wiederum die Einmischung der amerikanischen Seite auslöste und die afghanische Konfliktsituation noch mehr zuspitzte. Auch nach dem Abzug der Sowjettruppen hatte sich die Lage nicht verbessert.
Ausgerechnet in Afghanistan kündigten sich die schrecklichen Ereignisse im vergangenen Herbst an, als der internationale Terrorismus zentrale Infrastrukturen in Hauptstädten der Vereinigten Staaten zerstörte. Braute sich doch dort das ethnisch-konfessionelle Gemisch zusammen, das die Menschheit in unserem Jahrhundert im Kern bedroht. Ebenda konnten aus reaktionären Ideologien die Triebe des Terrorismus aufkeimen, wurden sie doch reichlich durch die Blutströme Afghanistans gewässert.
Die internationale Gemeinschaft aber hatte Afghanistan und sein Volk in den letzten zehn Jahren eines zermürbenden Bürgerkrieges völlig vergessen und sich selbst überlassen. Das Land wurde verwüstet und von Stammesgruppen in Teile zerrissen; die sich bekriegenden Warlords zeigten sich unfähig, friedlich zu wirtschaften und eine staatliche Gemeinschaft aufzubauen. Im Inneren des Landes fehlte die Kraft für eine Einheit der Bevölkerung, für friedliche und schöpferische Arbeit, ja schlicht für ein einigermaßen normales Leben. Wie oft in solchen Fällen drang die Kraft für eine Ordnung von außen aus ein - hier waren es die jungen Absolventen aus Pakistans Religionsschulen, die sich zur Bewegung der Taliban zusammenschlossen.
Erzmittelalter
Und jetzt wird allgemein bekannt, über welch zerstörerische Gewalt diese besessene Bewegung verfügte und das Land endgültig ruinierte. Da hatten junge, militante Kleriker eine erzmittelalterliche Gesellschaft zu schaffen versucht - bar jeder Kenntnis der Geschichte, der Grundlagen einer Staatsordnung, der Ökonomie und Kultur. Ihr Wissen war ziemlich primitiv: Es gibt Herrscher und Beherrschte, alle Frauen müssen die Burka tragen und die Männer den Bart, das ist Gottes Wille, der keinerlei Erklärung bedarf. Solch eine im Grunde aufreizend gewalttätige Ordnung kam ohne militärische Macht nicht aus. Ein derartiges Sozialgefüge stützt sich nicht auf produktive Tätigkeiten. Niemand hatte Arbeit, jeder Mann war praktisch ein Krieger, der zugleich an zwei Kriegen teilnahm: hier gegen seine Landsleute im gegnerischen Lager, dort gegen die ganze Welt, zuletzt vor allem gegen die Vereinigten Staaten. Die Wahl eines leicht zugänglichen Gewerbes - die Geschäfte mit Drogen - drängte sich von selbst auf, es brachte, was hier besonders wichtig war: das schnelle Geld auf allen Märkten. Dieser grausame und schmutzige Krieg kannte keine Grenzen, Europas Heroin stammte zumeist aus dem Rohopium Afghanistans, vom Erlös besorgten sich die Krieger ihre Waffen aus allen Waffenschmieden der Welt, sie richteten sich gegen jede Erneuerung, zerstörten die alte Kultur und alles Fortschrittliche, sie zielten auf das eigene Volk, zuletzt gar auf alle.
Die Hauptwaffe in diesem unmenschlichen Krieg war Terror nach innen und außen. So unbegreiflich es auch scheinen mag: Das Schlachthaus war durch fromme Segenswünsche und religiöse Dogmen getarnt, die man nach eigenem Gutdünken dem vieldeutigen Kontext des islamischen Glaubens entnahm, dem bekanntlich die große Idee der Toleranz und Vergebung, der Barmherzigkeit und Achtung vor dem Menschen als dem größten Geschöpf Gottes zugrunde liegt.
Das ausgeklügelte und alogische Gespinst, das jeder Realität und dem Verlauf der Menschheitsgeschichte hohnsprach, konnte nicht lange währen. Das traurige Ende ist durchaus folgerichtig - das Regime der Taliban ist nicht mehr. Doch sollte die Menschheit aus diesem beispiellosen Phänomen ernsthafte Lehren ziehen, damit es sich nicht noch mal wiederholt.
Wenn wir das Geschehene überdenken und dabei auch Ansichten von Forschern aus aller Welt einbeziehen, suchen wir nach Gründen, die zu solchen Ereignissen führten, darunter auch zu ihrem Höhepunkt - der Zerstörung des Welthandelszentrums in New York; solche Ereignisse entziehen sich den üblichen Regeln der Vernunft. Den Handlungen der jungen Menschen, die diese Greueltaten vollbrachten, wohnen so viele Unwahrscheinlichkeiten inne, daß sich viele Fachleute der unterschiedlichsten Disziplinen noch lange damit befassen dürften, auf der Suche nach einer logischen Kette der Tätermotive, in der Annahme, solchen Handlungen läge etwas Logisches zugrunde.
Wie jede Erscheinung des menschlichen Lebens ist die Armut eine Quelle des Guten und Schlechten. Dennoch bleibt Armut stets etwas Extremes und für die Existenz des modernen Menschen etwas grundsätzlich Unannehmbares, existiert doch nebenan das andere Extrem - die übermäßige Sattheit, ja der überflüssige Reichtum, der zum Widerstand reizt und ganz einfach Unzufriedenheit provoziert.
Das Extreme ist imstande, extremistische Handlungen zu erzeugen. In jedem Fall sollte man mit solchen Verkettungen rechnen, nicht erst seit dem Herbst 2001. Hier fallen einem auch die jüngsten Ausbrüche des Zorns in Argentinien ein. Was Afghanistan betrifft, so hat sich dieses vom Krieg entleerte und zerstörte Land als Hort für Usama Bin Ladin angeboten, wo er mit seinen Millionen an kriminellem Kapital schalten und walten konnte. Auf diese Weise wurde das von den Taliban geführte Land in die Pläne jenes bösen Inspirators hineingezogen und zum Leitungszentrum eines Terrornetzes gemacht, das die Vereinigten Staaten und die moderne Welt bekriegte. Dabei stellt sich aber auch die Frage, wann und warum es zum Bruch der einstigen Allianzen kam.
Allem Anschein nach hat Usama Bin Ladin unbewußt gespürt oder auch recht klar erkannt, daß die Kräfte, denen er später den Krieg erklärte, extrem ungleich sind und er zur Niederlage verurteilt ist. Deshalb plante er Aktionen, deren Folgen die Welt, im äußersten Fall die Vereinigten Staaten, dazu zwingen würden, ihn und die gesamte muslimische Gemeinschaft, wie er sie sieht, anzuerkennen. Viele Beobachter bezeichnen solch ein Phänomen als die asymmetrische Drohung der Terroristen. Diese gingen demnach von einer illegitim erworbenen, riesigen Differenz an Macht und Reichtum zwischen Nord und Süd aus. Wenn sich aber Menschen in militärischer und ökonomischer Hinsicht als die schwächeren ansehen, greifen sie zu asymmetrischen Mitteln, um das erwünschte Ziel zu erreichen. In diesem Licht lassen sich die Ereignisse des 11. September 2001 als ein Gleichgewicht von Terror und verzweifeltem Zorn charakterisieren. Die Leute begingen, folgt man diesen Argumenten, Selbstmord, weil sie nichts zu verlieren hatten und nach Kräften den größtmöglichen Schaden anrichten wollten. Ihr Handeln sei nicht der Ausdruck von bloßer Armut, sondern drücke ein Gefühl der Minderwertigkeit aus. Unter vorsichtig argumentierenden Wirtschaftsfachleuten im Westen heißt es, es gebe zwar keine unmittelbare, ursächliche Abfolge von Entbehrung und Terrorismus, aller Wahrscheinlichkeit nach existiere jedoch eine bestimmte Verbindung zwischen beidem. Gehe es doch um Verhältnisse, die den Nährboden für terroristische Ideen darstellten und es Personen wie Usama Bin Ladin ermöglichten, ihre Ideen aus jenem Nährboden herauszukristallisieren. Ungeachtet der vom Westen verkündeten Wohltaten der Globalisierung vertieft sich die Kluft zwischen Armen und Reichen immer mehr. Mit anderen Worten: Das sogenannte globale Dorf steht nach Auffassung etlicher Forscher vor der Wahl zwischen zwei Wegen in der weiteren Entwicklung. Entweder wir leben in ungetrübter Nachbarschaft zusammen, bei der es zwar Arme und Reiche gibt, aber alle wissen, daß sie leben können und ihren Anteil erhalten. Oder wir leben in einem System der Apartheid, bei dem der Reiche stets Angst hat oder sich den Kopf über seine Sicherheit zermartert, weil gleich nebenan ein Armer vor sich hin vegetiert, seine Forderungen stellt und sein Haß und sein Zorn ob all der Entbehrungen und Erniedrigungen ständig wachsen. Deshalb sollten wir unbedingt das hüten, was allen gemeinsam ist: die hohe Bedeutung des Menschen - seines Lebens, seiner sozialen und ökonomischen Sicherheit: Wir dürfen die Substanz des Menschseins nicht verkümmern lassen. Dem letzten UN-Bericht ist zu entnehmen, daß derzeit über 1,2 Milliarden Menschen unter der Armutsgrenze leben, davon allein 800 Millionen ständig hungern müssen. Wer unter den Übersatten darauf setzt, er könne zwischen sich und dem "Arbeitsvieh" eine Mauer hochziehen oder es gar keulen lassen, macht sich etwas vor - genauso wie diejenigen, die der Devise des Ober-Kandalow folgen, der Gestalt in meinem Roman "Der Richtplatz", der die Welt nur auf eine einzige Art ordnen will und bei der Kreuzigung seines Opfers erklärt: "Ich würde einen jeden, der nicht für uns ist, so hochziehen, daß ihm gleich die Zunge heraushängt. Alle würde ich sie aufhängen, alle, alle, die gegen uns sind, und den ganzen Erdball an einem einzigen Strick wie ein Reifen ums Faß, und dann wird keiner mehr auch nur mit einem Wörtchen uns widersprechen, würden alle schön strammstehen."
Hauptursache Verelendung
Solche Postulate lagen dem Bolschewismus und Faschismus zugrunde, gerade in ihrer wechselseitigen Todfeindschaft. Für mich ist klar, daß als Hauptursache des Terrorismus wie auch vieler anderer negativer Phänomene des gesellschaftlichen Lebens die Verelendung zu nennen ist. Und viele Menschen sind sich darin einig, daß der gesamten Völkerfamilie am 11. September 2001 eine neue Seite im Buch ihrer Geschichte aufgeschlagen wurde. Meines Erachtens sollten wir unsere Anstrengungen auf die Lösung dieses erstrangigen Problems konzentrieren und den Triumph nicht denen überlassen, die alles beim alten belassen und das fatale Muster akzeptieren: "Ihr könnt uns zerbomben, wir bringen euch Pest und Aids." In Schwarzafrika ballt sich etwas zusammen, was auf stille Weise schrecklicher sein wird als die Explosionen in New York und Washington.
Die Länder unserer Region befinden sich auf der Schwelle des Übergangs von einem relativ stabilen Zustand innerhalb des ehemaligen Sowjetimperiums in die Reihe der am wenigsten entwickelten Länder. Bei diesem Übergang erleben wir Wechselbäder: Das eine Mal bewegen wir uns deutlich voran, ein anderes Mal fallen wir weit zurück. Leider sinken die Qualität und das Niveau des Lebens, eine scharfe Abgrenzung von Arm und Reich vollzieht sich, die Standards der Bildung und des Gesundheitswesens gehen zurück. Zugleich ist zu beobachten, wie sich die Bevölkerung zunehmend ins politische, sozialökonomische und kulturelle Leben des Landes einbringt. Die Leute schließen sich sozialen Initiativen an und organisieren sich in Nichtregierungsorganisationen, gründen kleine und mittlere Betriebe, beteiligen sich aktiv an Diskussionen über die Politik des Staates, verfolgen aufmerksam die Debatten im Parlament, spezialisieren sich mit Hilfe von Bildungsprogrammen im Ausland und so weiter. Im Unterschied zu anderen Ländern der Region - wie etwa Afghanistan, Pakistan, Indien und Iran - ist in Kirgistan die allgemeine Bildung für alle gesichert. Wir verfügen über eine intellektuelle und kulturelle Elite, unsere Wissenschaftler beteiligen sich an internationalen Programmen aktueller Grundlagenforschungen: Unsere Wirtschaft beruhte auf einer ziemlich entwickelten Industrie und Landwirtschaft, die Verwaltung des Landes gründete auf modernen Methoden der Wirtschaftsführung, es gab ein effektives Netz moderner Infrastrukturen. Unser Land kann also auf ein ausreichendes Potential zurückgreifen, so daß sich Kirgistan auf harmonische Weise in eine zeitgemäße Gemeinschaft integrieren läßt. Im Zentrum der Hauptstadt Bischkek sind trotz der gegenwärtigen Erschwernisse praktisch an jeder Ecke "Internet-Cafés" anzutreffen, wo meine Landsleute aktuelle Informationen empfangen, mit Menschen ihrer Altersgruppe, mit Fachkollegen und -kolleginnen aus aller Welt kommunizieren können. Wir wollen dieses Potential unbedingt erhalten und pflegen, damit wir auf dem Weg unserer weiteren Entwicklung leichter vorankommen. Zu unserem Leidwesen fehlte uns das Primärkapital, als wir uns als souveräner Staat in die Weltwirtschaft zu integrieren begannen. Dies bekommen wir natürlich trotz unserer Anstrengungen für die Schaffung einer stabilen Gesellschaft immer wieder zu spüren. Wir haben äußere Hilfe nötig, wollen aber keine Geschenke, sondern Partner, die investieren, weil sie sich ausrechnen, daß sich Investitionen unter den genannten Voraussetzungen lohnen - einer stabilen, friedlichen Region Zentralasien, an der alle Welt interessiert sein müßte.
In unmittelbarer Nachbarschaft zu Afghanistan ist uns sein Schicksal nicht gleichgültig. Historische und kulturelle Fäden verbinden uns mit dem afghanischen Volk. Wir haben viel Gemeinsames in unserer Lebensweise und der Wahrnehmung der Wirklichkeit. In unserem Land gibt es auch ein Jalalabad: Schon im tausendjährigen Epos der Kirgisen, im Manas, wird die Stadt Kundus erwähnt. Damals war Kundus Schauplatz der Schlacht, wo der legendäre Manas die Feinde stellte, die sich anschickten, kirgisisches Land zu erobern. Das Ereignis blieb im Gedächtnis des Volkes - Kundus als Schauplatz der Verteidigung gegen den und der Schlacht mit dem Feind über die Zeiten hinweg.
Alte Handelsrouten
Aus objektiven Gründen haben unsere Länder leider weder zu sowjetischen Zeiten noch danach Beziehungen zueinander unterhalten. Als Nachbarn haben wir jedoch alle Folgen der Ereignisse in und um Afghanistan besonders hautnah zu verspüren bekommen, besonders in letzter Zeit. Über zwei Jahre lang kam es regelmäßig zu Zusammenstößen mit Kämpfern, die ihre terroristische Ausbildung in Lagern Afghanistans erhalten hatten. Unser Land befand sich nach Jahrzehnten einer friedlichen Existenz wieder im Kriegszustand. Wie schon in den Jahren des Zweiten Weltkrieges hatten unsere Mütter den Tod ihrer Kinder zu beklagen - sie fielen als Soldaten im Kampf gegen Terroristen. Über die ganze Zeit führte mein Land einen unablässigen Kampf gegen den Drogenschmuggel und den Waffenhandel aus Afghanistan. Wir wehrten uns gegen die Propaganda des religiösen Extremismus, den das islamische Khalifat in der Region herangezüchtet hatte. Mit anderen Worten sind wir mehr als irgendwer sonst in der internationalen Gemeinschaft an einer möglichst raschen Regulierung der Krise in unserem Nachbarland interessiert.
Ein friedliches und stabiles Afghanistan erschließt neue Wege für die regionale Zusammenarbeit in allen Lebensbereichen. Es ist von Bedeutung, daß sich durch dieses Land der Zugang der kontinentalen Länder Zentralasiens zum Weltmeer erschließt. Alte Handelsrouten könnten wiederbelebt werden und günstige Bedingungen für eine kulturelle und materielle Bereicherung aller Beteiligten schaffen. Es ist auch offensichtlich, daß eine Beteiligung Afghanistans an bestehenden und künftigen Foren der Region dem Land neue politische Impulse verleihen dürfte. Um so aufmerksamer wird man in unserer Region verfolgen, ob den Worten über eine effektive Aufbauhilfe für Afghanistan auch Taten des Friedens folgen.
Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer, Januar 2002.