Literatur orientiert sich an der Welt, und sie bereichert sie um eine Perspektive. Derjenige, der schaut, erblickt aber nicht nur Fremdes, sondern auch Heimat. Gleich drei "Vaterländer" sind es im Fall von Adam Zagajewski: Geographisch ist er in Polen zu Hause, seine geistige Heimat ist die Atmosphäre Krakaus, einer Stadt voll Geschichte, Politik und Philosophie. Die dritte Heimat indes ist die Poesie. Dieses Vaterland hat der 57-Jährige mitgenommen, als er vor 20 Jahren ins Exil ging. Heute ist Zagajewski, der in Weimar den mit 15000 Euro dotierten Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhielt, einer der bedeutendsten Schriftsteller der polnischen Gegenwartsliteratur.
- Herr Zagajewski, Ihre Dichtungen werden als Hommage an die Einheit des europäischen Kontinents bezeichnet Gibt es eine solche Einheit?
Es gibt viele Möglichkeiten, in Europa eine Einheit zu sehen. Ich empfinde diese Einheit vor allem als Leser. Wenn man liest, denkt man. Das ist eine Art, lebendig zu sein. Ich habe schon früh begonnen, internationale Literatur zu lesen. Natürlich ist die Literatur eine sehr schwierige Form der Einheit, aber immerhin ist sie eine sehr konstante Form. Durch die Art, wie in Europa gedacht und gelebt wird, sehe ich eine Einheit.
- Umgekehrt gefragt: Wo sind die Differenzen? Gibt es heute noch eine Nationalliteratur? Was zeichnet zum Beispiel die polnische Literatur aus?
Ich kann nur für die polnische Lyrik sprechen. Sie ist dicht, kompliziert und intellektuell, aber sie bleibt gegenständlich und ist nicht hermetisch wie die Poesie vieler westeuropäischer Länder. Die Dichter aus der Generation vor mir, die Nobelpreisträger Milosz und Szimborska, haben es geschafft, den Stoff der Geschichte zu formen und dabei einen Weg zwischen dem Kollektiv und dem Individuum gefunden. Vielleicht liegt es an diesem "Dazwischen", dass die polnische Lyrik dieser Zeit eine solche Besonderheit darstellt. Es ist interessant zu sehen, dass man das in den USA viel mehr spürt als in Europa. Aber ich gebe auch zu, dass Lyrik keine Literatur für Millionen ist.
- In Polen waren Sie politisch aktiv und wurden mit einem Druckverbot belegt. Sind Sie ein politischer Dichter?
Ich verstehe die Dichtung als Erweiterung des politischen Engagements. In den 80er Jahren wurde ich in Polen angegriffen, weil ich eine bestimmte politische Sicht nicht vertreten habe. Jetzt ist das vorüber, aber der politische Impuls ist mir teuer geblieben. Ich will politische Eindrücke in meiner Lyrik vertiefen, aber nicht Partei für aktuelle Ereignisse ergreifen. Umgekehrt will ich nicht zu einem reinen Ästhetizisten werden, der Politik verachtet. Lyrik transzendiert Politik. Das habe ich immer das interessanteste gefunden.
- In Ihrem Buch "Ich schwebe über Krakau" mischen Sie authentische Erinnerungen an Ihre Studienzeit in Krakau, an Verwandte, an prokommunistische Lehrer und verstummte Intellektuelle mit zeitlosen Aphorismen, Gedanken und poetischen Splittern. Ihr Thema kreist um den Begriff der "Ganzheit"; Sie sprechen von der Faszination, die dieses Wort auf Sie ausübt. Das ist eine ontologische Denkweise. Die Form aber, die Sie zur Darstellung wählen, ist gebrochen. Vieles klingt an, Sie schweifen ab, kehren zurück, nehmen Episoden neu auf. Kann man "Ganzheit" durch Brechungen schildern?
Heute spricht man ständig von der Krise: der Sprache, des Romans, der Dichtung. Ich glaube nicht daran, das ist eine Krise der französischen Philosophen. Für mich ist die Poesie eine Region, ein inneres Leben, die ich spüre, wenn ich schreibe. Ich verstehe Dichtung als die dauernde Frage nach dem Sinn der Welt aus der Perspektive des Schreibenden, als unaufhörliches Abwägen des Sinns. Das ist eine unerhört dramatische Tätigkeit. Ich habe ein Bewusstsein davon, dass wir immer in einer zweiten Wirklichkeit leben; sie ist die eigentliche Wirklichkeit. Aber man spürt sie so wenig in unserem Medienzeitalter, daher möchte ich sie verteidigen. Ob das durch eine Brechung geschieht, vermag ich nicht zu beurteilen. Sie ist jedenfalls sehr an die Wahrnehmung dieser Wirklichkeit gebunden.
- Sie stammen aus einem katholischen Land, und in Ihren Erinnerungen erzählen Sie, wie Karol Woityla, der heutige Papst Johannes Paul II., bei Ihrer Tante zu Gast ist. Einige Ihrer Gedichte tragen Titel wie "Moses", "Gespräch mit Friedrich Nietzsche", "Die Erschaffung der Welt". Glauben Sie im Zeitalter der Postmoderne noch an metaphysische Bedürfnisse?
Das ist eine sehr deutsche Frage, aber sie gefällt mir. Ich habe neulich das Buch des Italieners Roberto Calasso mit dem Titel "La littérature et les dieux" (Die Literatur und die Götter) gelesen. Ich erwähne das nur, weil es zeigt, dass sich auch die westlichen Literaten und Literaturwissenschaftler noch immer mit der Frage nach Gott beschäftigen. Das Wort Gott, das noch vor 20 Jahren fast verboten war, kommt zurück. Es antwortet auf ein Bedürfnis, das in den Gesellschaften nach wie vor existiert. Die Menschen haben, so scheint es mir jedenfalls, durch den Nihilismus auch keine bessere Antwort gefunden. Ich betrachte die polnische Literatur in diesem Zusammenhang als einen ungewöhnlichen, im übrigen einen sehr positiven Anachronismus. Die große polnische Dichtung - Milosz, Herbert, Szymborska - ist eine Dichtung der Gemeinschaft, sie wendet sich an die Welt. Im Westen herrscht gegenwärtig eine sehr starke Tendenz, die Literatur zu privatisieren und zu psychologisieren. Die polnische Literatur ist immer noch eine Dichtung der Gemeinschaft; sie ist dadurch bestimmten Gefahren der Moderne entronnen.
- Die Sprache, sagt schon Nietzsche, bestimmt unser Denken Sie sind Philosoph und Dichter, und Sie leben in und mit vielen Sprachen. Was bedeutet die Sprache für Sie?
Ich schreibe natürlich auf Polnisch. Aber es macht mir Spaß, verschiedene Sprachen zu sprechen. Was ich mag, ist diese Spannung zwischen Ausdruck und Denken. Es ist immer unsere Kindheit, die in unseren Werken zu uns spricht, aber nur das wäre vielleicht ein wenig langweilig. Deshalb reise ich gerne. Ob ich deshalb ein Weltbürger bin, weiß ich nicht. Hoffentlich nicht! Was die Sprache selbst betrifft: Ich werde ein wenig trotzig, wenn ich höre, dass man die Sprache ehren soll. Nein! Die Sprache ist auf eine falsche Weise zu einem Gott geworden, etwa im Strukturalismus, aber es gibt etwas vor der Sprache, das viel schwieriger zu benennen ist. Die Sprache dient diesem Etwas, das immer vor der Sprache ist.
- Sie haben 20 Jahre in Paris gelebt, nun ziehen Sie mit Ihrer Familie nach Krakau zurück. Verlieren Sie wieder eine Heimat?
Ich bin aus privaten Gründen nach Paris gezogen, und ich habe als Exilschriftsteller dort gelebt. Paris ist schön, aber auch sehr perfekt, und das bietet keine Wirklichkeit mehr für mich. Polen ist so unperfekt! Ich habe in Paris immer ein bisschen wie in einem Hotel gelebt. Jetzt möchte ich zurück in eine Gesellschaft, an der ich mich irritiere. Ich will nicht mehr im Hotel leben, sondern in der Wirklichkeit. Deshalb gehen wir zurück.
- Was können Menschen in der deutschen Wirklichkeit von polnischer Literatur lernen?
Das ist schwer zu beantworten. Ich hoffe, dass noch mehr Essays von polnischen Autoren und vielleicht auch vor mir übersetzt werden. Lyrik und Essayistik vermitteln keine kalte, objektive Sicht auf die Wirklichkeit, sondern Emotionen. Darin liegt auch Verständigung. Übrigens glaube ich nicht an eine klare Unterscheidung zwischen östlicher und westlicher Geisteshaltung. Es mag sein, dass ich mich mit einem Ossi etwas besser und schneller verstehe als mit einem Wessi. Aber nichts mehr als das.
Zum Autor
Adam Zagajewski wurde am 21.Juni 1945 in Lemberg geboren. Seine Kindheit und Schulzeit verbrachte er Gleiwitz, Schlesien, wohin die Familie nach dem Kriege übersiedelte. Von 1963 bis 1968 studierte er Psychologie und Philosophie in Krakau. Sein literarisches Debüt hat Zagajewski 1967 mit einigen Gedichten in einer Zeitschrift, doch erst in den siebziger Jahren tritt er auch als Romanautor und Essayist in Erscheinung. Ende der siebziger Jahre schließt er sich dem Kreis der Bürgerrechtsbewegung KOR an und erhält ein zeitweiliges Veröffentlichungsverbot von den Behörden, so dass er 1979 zunächst nach Berlin geht und 1982 nach Paris. Seit 1988 lehrt er an der Universität von Houston, USA, kreatives Schreiben.
Für seine Werke erhielt Zagajewski zahlreiche Auszeichnungen, so den Kurt-Tucholsky-Preis, Stockholm (1985), den Andrzej-Kijowski-Preis, Warschau (1986), den Prix de la Liberté, Paris (1987), den Literaturpreis der Alfred-Jurzykowski-Stiftung, New York (1988) und den Nikolaus-Lenau-Preis für europäische Lyrik (2000). Der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung wird in diesem Jahr zum 10. Mal verliehen.
In Deutschland sind von Zagajewski im Hanser Verlag erschienen: Der dünne Strich (Roman), 1985, Solidarität und Einsamkeit (Essays), 1986, Gedichte (1989), Mystik für Anfänger (Gedichte), 1994 und die "Erinnerungsbilder" Ich schwebe über Krakau (2000). (chd)
Poesie, Gedankensplitter
Geländer
Leider - sagt R. - zwischen dem Sein / Und dem Nichtsein gibt es kein Mittelding,/ nichts, nicht einmal einen Korridor, nicht einmal ein Geländer, / auf das sich die müden Adler niedersetzen könnten. (Aus: Adam Zagajewski: Mystik für Anfänger. Gedichte. Aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius. München: Hanser, 1997.)
Ich hatte zwei Vaterländer verloren und suchte nach einem dritten - nach dem Ort für meine Einbildungskraft, nach einem Hoheitsgebiet, das mir erlaubt hätte, meinem noch unklar ausgeprägten Kunstbedürfnis freien Lauf zu lassen. Ich hatte die reale Stadt verloren und suchte nach einer Stadt der Einbildungskraft. Verhältnismäßig spät, später als andere Leute, wählte ich die Poesie als Ziel meines Suchens.
Der Schriftsteller, der ein intimes Tagebuch führt, schreibt darin auf, was er weiß. Im Gedicht oder in der Erzählung schreibt er über das, was er nicht weiß.
Das, was groß ist, lässt sich überhaupt nicht aussprechen. / Und das, was klein ist, nun - man kann's versuchen.
Das Geheimnis des Gedichts liegt immer vor uns. Autor und Leser werden nie zufrieden sein, werden das endgültige Gedicht immer auf später verschieben wollen. Ebenso warten wir auf den Tod; auf das Schreckliche und Endgültige, das ihm innewohnt, vielleicht auch auf Freudiges.
Die Welt behüten - ein bisschen lesen, ein bisschen Musik hören.
Verteidigung der Poesie bedeutet, etwas verteidigen, was im Menschen steckt, nämlich die fundamentale Fähigkeit, das Wunderbare der Welt zu erleben, das Göttliche im Kosmos und im anderen Menschen, in der Eidechse und in den Kastanienblättern zu entdecken, die Fähigkeit zu staunen und lange Momente im Staunen zu verharren. Wenn diese Fähigkeit verwelkt, wird die Menschenrasse zwar weiterbestehen, aber auf einem niedrigeren, schwächeren Niveau, anders als in den Jahrtausenden, in denen es keine Zivilisation gab, welche die Poesie - in dieser oder jener Gestalt - im Zentrum menschlicher Werke lokalisiert hätte. (Aus: Adam Zagajewski: Ich schwebe über Krakau. Erinnerungsbilder. Aus dem Polnischen von Henri Bereska. München: Hanser, 2000) |