Liebe Leserin
Lieber Leser
Früher waren die Aufregungen um den Nobelpreis deutlich sympathischer. Sie betrafen weniger die Juroren als vielmehr die Kandidaten. Das ganze Jahr hindurch drehte sich das Karussell der Gerüchte aus Stockholm: Freunde berichten, ein Juror sei mit diesem oder jenem Buch in der U-Bahn gesehen worden … Ein Professor wird zu einem Vortrag über Yaşar Kemal an die Akademie geladen … In einem anderen Jahr begibt es sich, dass Assia Djebar in einer Stockholmer Bank auf dem Wartebänkchen sitzt, um Geld zu wechseln. Da tritt ein soignierter Herr auf sie zu, stellt sich als Sekretär der Akademie vor und spricht die sofort weltweit weitergeflüsterten Worte: »Ich lese Ihre Werke mit großer Anteilnahme!«
Im Oktober 1990 erhält Tschingis Aitmatow im Hotel Sacher in Wien einen Anruf, er solle sich am nächsten Donnerstag in der Nähe eines Telefons aufhalten – worauf der begleitende Verleger stracks an sein Pult in Zürich zurückreist. Wo er im allfälligen Ernstfall ja hingehört (außer es ist gerade Buchmesse). Als dann aber Michail Gorbatschow am nächsten Tag den Friedensnobelpreis erhält, wird in Stockholm offensichtlich umdisponiert.
Vor allem die schwedischen Verleger hören das Gras wachsen. Überhaupt sind sie Torwächter zum Ruhm. Manche Mitglieder der aus Altersgründen ohnehin geschrumpften Jury sind in den Weltsprachen wenig bewandert. Ein Autor ohne schwedische Übersetzung hat also ein heftiges Handicap. Informierte Kreise analysieren zudem die verborgenen Mechanismen des Kräftemessens. Da gibt es die Partisanen der englischen, französischen, spanischen Sprache, im Clinch mit den Sympathisanten der vielen anderen Sprachen, die notorisch zu kurz kommen. Daneben, sich mit Ersteren überkreuzend, die Fürsprecher Afrikas, der arabischen Welt, Asiens, der Karibik, Ozeaniens. Dazu noch persönliche Vorlieben und Aversionen. Kein Wunder, wenn es bei der Siegerfindung manchmal zuzugehen scheint wie bei den Koalitionen des Eurovision Song Contest.
Nichts als eitle Gerüchte ohne Gewähr! Haltlose Spekulationen! Sie wurden deutlich leiser, als das Insiderwissen monetarisiert werden konnte: Wer etwas wusste, konnte nun bei einem der Online-Wettanbieter den Reibach machen. War das nicht illegal, weil eine Form von Insidertrading? Erste Gerüchte um Juroren und ihre Seilschaften begannen zu köcheln.
Ein Untergang des Preises aber wäre ein Verlust für die Weltliteratur, weil der Nobelpreis für Literatur einer der wenigen Literaturpreise ist, der immer wieder ohne Seitenblick auf den modischen Mainstream des Tages verliehen wurde und manchem Autor, vereinzelt auch einer Autorin, verdientermaßen zum Schritt auf die Weltbühne verholfen hat. Drücken wir also die Daumen, dass aus dem Nobelpreis endlich ein Preis der wahren Weltliteratur wird – ohne die Hegemonie der tonangebenden Großsprachen des Westens, ohne Rücksicht auf Herkunft und Geschlecht.
Mit vielen Grüßen aus Zürich
Lucien Leitess