Liebe Leserin
Lieber Leser
Stellen wir uns vor: Ein Ägypter hat das Dynamit erfunden, und das Nobelpreiskomitee sitzt in Kairo. Im Laufe der Jahrzehnte hat es zahlreiche Autoren von Weltrang ausgezeichnet: Chinua Achebe, Mulk Raj Anand, Nadine Gordimer, Yasar Kemal, Pramoedya Ananta Toer, Ngugi wa Thiong’o, Adonis, Tahar Ben Jelloun, Ba Jin ... Als Dürrenmatt 1971 seinen Preis bekam, jubilierten die Feuilletonisten von Rabat bis Rangoon, denn er wird in ihren Theatern gespielt. Nicht einmal bei Graham Greene (1968) gab es Misstöne, denn in Europa geschätzte Autoren werden in der Dritten Welt geachtet.
Der Traum platzt. Den weltumspannenden Olymp der Weltliteratur gibt es nicht. Aber seien wir dankbar – den unberechenbaren Herren der Stockholmer Akademie wie auch den Opponenten und Mäklern ihres Entscheides. Denn durch die Nobelpreisverleihung dieses Jahres kam endlich eine lange unterdrückte, unterschwellige aber unaufschiebbare Konfrontation an den Tag. Die Debatte ›Was ist Weltliteratur?‹ hat die Spitzen des Feuilletons eingeholt. Hoffen wir, dass sie lange und intensiv weitergeführt wird.
Auch zu Machfus herrschte jahrelang selten gebrochenes Schweigen, bis nach jenem Donnerstag das große Interesse samt Pro und Contra ausbrach. Gratulation also jenen Buchhändlern, die seit 1985 ihr angestaubtes Lagerexemplar nicht zurückgeschickt hatten. Dank vor allem jenen Leserinnen und Lesern, die zur Midaq-Gasse gleich nach Erscheinen das Wort ergriffen auf den Leserkärtchen, die jedem Exemplar des Romans beilagen. Diese Stimmen sind Signale dafür, dass es an den Lesern nicht liegen kann, wenn nur das Buch durch die Nadelöhre von Vertrieb und Feuilleton den Weg zu ihnen gefunden hat. Leser sind von Natur aus neugierig. Zu Recht, denn jenseits der Grenzen eingesessener, einheimischer Autoren und Bücher wartet ein Lustgarten der Literatur darauf, entdeckt zu werden.
Mit vielen Grüßen aus dem Unionsverlag
Lucien Leitess