Liebe Leserin
Lieber Leser
Täglich Punkt 12:00 Uhr (wehe dem, der sich verspätet) verwandelt sich das Entrée unserer Verlagsetage in eine Vier-Sterne-Kantine. Wo soeben noch konzentrierter Austausch, vielbeschäftigtes Schweigen oder emsiges Kommen und Gehen herrschte, übernimmt nun Ulla Steffan mit ihrem verzauberten Kochlöffel das Zepter. Lunchtime!
Zu dieser exquisiten Kochkunst gehört natürlich eine entsprechende Gesprächskultur. Eiserne Regel: Reden übers Geschäft verdirbt den Appetit und ist tabu. Sofort offenbart sich beim Tischgespräch ungeahntes Weltwissen in allen anderen Bereichen.
Es outen sich Expertinnen für Harry Potter, Sachverständige betreffend Meghan Markle und ihrem Vater und zum Glück Spezialistinnen fürs Knacken der deutschen Netflix-Sperre der letzten Staffel von Meghans Serie Suits. Ein Crack hat entdeckt, dass Gisbert Haefs in seine pharaonischen Historienromane insgeheim Verszeilen von Bob Dylan eingeschmuggelt hat. Dazwischen die Frage an die Königin der Tafel: Ist da nicht ein Hauch Parmesan in der Kartoffel-Blumenkohlsuppe? Was ist eigentlich das Geheimnis der weltbesten Zwiebeln aus Tropea? Und eine Spur von echtem Eselfleisch in der Salami vom Tessiner Wochenmarkt? Worauf die Geschichte aus Aitmatows Kindertagen erzählt werden muss: Er trieb einst eine ganze Eselsherde auf den Flughafen zum Transport nach Italien, als solidarische Spende des kirgisischen Volkes an die italienischen Genossen bei der Salamiproduktion zugunsten der Weltrevolution. Zwanglos geht es weiter über Einer wird gewinnen, Hans-Joachim Kulenkampff (»Wer kennt den noch?«) und seinen Umgang mit der Erinnerung an Nazideutschland, zu Vico Torriani, Peter Alexander und Kindheitserinnerungen an den päpstlichen Segen urbi et orbi am Neujahrstag.
Über die Frage, ob der deutsche Knecht Ruprecht wie der niederländische »Zwarte Piet« rassistisch geprägt ist und daher abgeschafft werden muss, beginnt eine Debatte. Und mit welchen Gefühlen stehen wir vor Gaugins Bildern von seinen jungen Frauen, die nach unseren Begriffen noch Kinder waren? Warum haben wir in der Schule nie gelernt, dass die alten Griechen und Römer in einer krassen Sklavenhaltergesellschaft lebten? Da zeigen sich dann durchaus Schattierungen zwischen den Generationen, die allerlei Denkprozesse auf allen Seiten in Gang bringen.
Worauf der Verlagsgründer enthüllt: Seit Jahrzehnten versucht er, den Altersdurchschnitt des Teams stabil zu halten. Weil sonst der Verlag altert. Darauf die Kollegin von der Administration mit einer Überraschung: Genau das habe der Versicherungsexperte auch festgestellt – seit Langem stabil bei ca. 45 Jahren.
Nun ist aber höchste Zeit fürs Dessert. Es zeigt sich, dass die Jüngste im Team mit ihrem Experiment von mehreren Dutzend Varietäten historischen Weihnachtsgebäcks das Zeug hat, zu unser aller Lieblingsoma zu werden. Da sind sich OK Boomer, Generation X und Millenials restlos einig.
Verlagsarbeit ist ja so vielseitig. Sie ist Kulturarbeit über die Grenzen von Zeiten, Themen, Kontinenten, Geschmäckern und Generationen hinaus. Und auch die Liebe zu Büchern geht durch den Magen.
Mit vielen Grüßen vom Mittagstisch!
Lucien Leitess
PS: Nun wissen Sie auch, warum wir zwischen zwölf und dreizehn Uhr nicht ans Telefon gehen.