Liebe Leserin
Lieber Leser
Die Tage, an denen dieses Editorial geschrieben wird, sind manchmal heiter oder elegisch, manchmal aber auch nachdenklich, gar grimmig wie heute. Denn wir erwachen gerade aus einem Albtraum: Die Vereinigten Staaten wurden von einem Präsidenten regiert, der keine Bücher liest. Der nichts aufnehmen kann, was über ein halbseitiges Memo oder die Zeichenzahl eines Tweets hinausgeht. Der als Maßstab nur Follower, Klickzahlen, Wähleranteile, die Schlagzeilen des Tages und ikonische Propagandabilder kennt. Dem Wissenschaft, Geschichte, Reflexion, gar ethisch-moralische Überlegungen nichts bedeuten und nichts sagen. Ein Fall von funktionalem Illettrismus neuen Typs.
Man kann davon ausgehen, dass die knapp fünfzig Prozent der Unerschütterlichen, die ihn für weitere vier Jahre über sich wollten, überwiegend auch zu den Wenig- bis Nichtlesern gehören. Einige seiner Brüder im Geiste sind in Europa bereits an der Macht, und wo sie es (noch?) nicht sind, meldet sich ihre Anhängerschaft polternd, oft übergriffig.
Politiker, Kulturverantwortliche, Pädagogen, alle Anhänger von Vernunft und Demokratie, alle Gegner von Lüge und Aberglauben – was haben wir falsch gemacht? Ganz offensichtlich zeigt sich da ein Scheitern, an dem wir bislang vorbeigeschaut haben. Wir sollten neu über die Bücher gehen. Wie kommt es, dass das Bücherlesen als Einübung von Reflexion und Einübung vernünftigen Handelns so krass und gefährlich aus dem Horizont von Politik und Gesellschaft verschwunden ist?
Nehmen wir als Beispiel die kleine Schweiz. Können wir es uns leisten, nicht einmal den Ansatz einer umfassenden staatlichen Leseförderung zu haben? Dass die Bücheranteile in Schul- und öffentlichen Bibliotheken Jahr für Jahr schrumpfen? Dass im Unterricht auf fotokopierte Auszüge statt Klassensätze unverstümmelter Bücher gebaut wird? Wie kommt es, dass sich der Bund für die Förderung der Presseverlage mit bald über 100 Millionen Franken engagiert und beim Corona-Ausbruch per Notverordnung 57,5 Millionen als Soforthilfe vorschlug? Für die Buchverlage ist seit einigen Jahren 1,7 Millionen Förderung und für den Buchhandel gar nichts budgetiert. Wo ist da die Logik? Wer wissen will, was für den Tag wichtig ist, greift zur Tageszeitung. Wer die Themen der Woche wissen will, liest die Wochenzeitung. Wer aus fruchtbarer Distanz Einsicht in Gegenwart und Vergangenheit gewinnen will, greift zum Buch. Das ist die Logik der Erkenntnis und des demokratischen Fortschritts. Das Buch ist neben Presse und Radio/Fernsehen die dritte Säule einer guten staatlichen Medienpolitik.
Aber auch wir selbst, als Akteure im Kulturbetrieb, müssen uns an der Nase nehmen. Warum gibt es in der Schweiz (außer dem Charles-Veillon-Preis für Essayistik) keine Auszeichnungen für Sachbücher? Die Literaturpreise des Bundes kennen nur Belletristik. Die Solothurner Literaturtage ebenso. Dem Schweizer Buchpreis fehlt schon lange ein Zwilling für Essay und Sachbuch. Die zahlreichen öffentlichen und privaten Stiftungen, auf die wohl über die Hälfte aller Schweizer Buchproduktionen angewiesen ist, kennen das Sachbuch meist nur, wenn es lokale Themen behandelt.
Wir alle schätzen und ehren die »schöne« Literatur, die erkenntnisstiftende Belletristik. Auf den folgenden Seiten finden Sie denn auch exquisiten Lesestoff für all Ihre Sinne, für Herz und Hirn. Eine Gesellschaft, die sich selbst erkennen, sich orientieren und stärken will, braucht alle Formen der Reflexion, den weiten Blick auf die Zeit, auch das Buch zur Sache über den Tag hinaus.
Viele Grüße aus dem Unionsverlag!
Lucien Leitess