Wenn die Welt einen Kirgisen mit Namen kennt - dann ihn. Tschingis Aitmatow, den Dichter. In 153 Sprachen kann man seine Werke lesen. Aitmatow wagte zu Zeiten des Kommunismus, als nur das Kollektiv zählte, nach dem persönlich Glück des einzelnen zu fragen .In den letzten Jahren der DDR etwa regten seine Bücher dort sehr zu kritischen Fragen an, vergleichbar mit jenen von Christa Wolf.
EuroNews: Tschingis Torekulowitsch, Sie sind seit 9 Jahren Botschafter Ihres Landes in Brüssel. Wie haben Sie hier im Herzen Europas die Ereignisse in Kirgisien verfolgt?
Tschingis Aitmatow: Was sich in jüngster Zeit bei uns abgespielte, hat die Aufmerksamkeit der ganzen Welt erregt. Wir alle konnten den Ablauf Minute für Minute verfolgen, ohne Schwierigkeiten. Die heutigen Informationssysteme machen das möglich.
EuroNews: Heute herrscht in Ihrem Land eine Art politisches Vakuum. Besteht die Gefahr, dass Islamisten dieses Machtvakuum nutzen?
Tschingis Aitmatow: Gott ist mein Zeuge - wir hatten immer die Sorge, dass der Islam, der extremistische, versuchen würde, sich seinen Weg zu bahnen. Dieses Mal ist es ihm nicht gelungen. Ich kann das mit fester Überzeugung bestätigen. Es fanden sich keine sichtbaren islamistischen Symbole. Aber ich glaube, dass sich Islamisten in der Umgebung aufhalten und dort darauf warten, dass den anderen die Macht entgleitet. Sie beobachten und bewerten die Situation sehr aufmerksam. Das heißt, es könnte sich in naher Zukunft eine Möglichkeit ergeben, bei der man sieht, wie sie sich einschalten. Das darf die neue Macht auf gar keinen Fall vergessen.
EuroNews: Herr Botschafter, Sie haben ein Geheimnis......
Tschingis Aitmatow: Ein Geheimnis???
EuroNews: Ja, den Schlüssel zur menschlichen Seele. Ihre Bücher bringen jeden Leser dazu, über sein eigenes Leben nachzudenken. Hatte Herr Akajew den Schlüssel? Wenn ja, wann hat er ihn verloren?
Tschingis Aitmatow: Das ist eine sehr spezielle Frage, die tiefes Nachdenken verlangt. Akajew ist selbst ein Intellektueller. Er ist Wissenschaftler. Er hielt immer an demokratischen Prinzipien fest, er pries diese Prinzipien. Aber in Laufe der Zeit wurde sichtbar, dass irgend etwas verloren ging. Wohl weil die Macht den Menschen verändert und er muss innerhalb der erlaubten Grenzen bleiben.
EuroNews Welches ist heute das wichtigste Ziel des kirgiesischen Volkes?
Tschingis Aitmatow: Darüber habe ich schon viele Male gesprochen , bei uns, in Russland, in anderen Republiken und auch in europäischen Medien. Ich wiederhole jedes Mal, worüber ich mir Gedanken mache: Wie können wir - wir als Gesellschaft - unser Land, unser Staatwesen als Ganzes bewahren und ein Auseinanderbrecher der Republik vermeiden? Nur wenn uns das gelingt, könnte das die Grundlage bilden, auf der wir unsere vielen Probleme zu lösen beginnen: vor allem die Armut und die Arbeitslosigkeit. Wir zählen auch auf die Europäische Union, dass sie uns helfen möge, Lösungen zu finden für diese Probleme.
EuroNews: Die ehemalige Außenministerin Rosa Otumbajewa hat gesagt, dass Bischkek nun eine multilaterale Diplomatie betreiben wird. Was denken Sie? Werden sich die politischen Prioritäten ändern? Vor allem in Bezug auf Russland?
Tschingis Aitmatow: Es wird keine radikale Änderung geben. Wir werden unsere Beziehungen zur EU, natürlich auch die zu den Partnern in der Region und zu den Nachbarländern weiterführen. Mit ihnen wollen wir in die gleiche Richtung arbeiten und die Beziehungen noch ausbauen. Russland ist zweifellos - in welcher Situation auch immer - unser sehr wichtiger Nachbar. Wir können uns stets bei ihm anlehnen.
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